Lebensläufer – Ausstellung / Lecture Performance
Ausstellung / Lecture Performance
Drei Lebensläufe
„Werni weint vor Hunger und Kalte.“
1945
Nachmittags um halb funf Uhr verlassen wir in geschlossenem Treck unsere Heimat. Durch tiefen Schnee geht unser Weg in Richtung Westen. Wir haben beide Wagen mit unserer Habe und Futter für die Pferde beladen. Wir sind durchgefroren und sehen, wo wir uns heißen Kaffee kochen können. Alles ist von Flüchtlingen und Soldaten überfüllt. Zur Nacht finden wir in einem kleinen Dachstübchen, auf dem Fußboden, ein Nachtlager. Unser Brot ist zu Stein gefroren.
1974
„Ich versuchte verzweifelt etwas zu erkennen. Rechts, links und hinter mir hohe Bäume, vor mir nichts, außer eine dunkle gähnende Leere. Der Boden unter mir hob sich in einer helleren Form von der anderen Umgebung ab. Konnte das sein oder täuschte ich mich, war es wirklich das Minenfeld? Wie angewurzelt stand ich nun da und wie gehts weiter?l So und jetzt, egal du mußt weiter, nur drei Schritte trennen dich von dem dunkleren und rettenden Boden. Augen zu und los, ähnlich wie bei Dreisprung bewegte ich mich vorwärts.“
2015
„Vier Tage sind mein Bruder und ich jetzt auf dem Schiff. Kurz vor der italienischen Küste setzen sich Kapitän und Besatzung mit einem Beiboot ab. D. und all die anderen sind allein. Jemand versucht, ein SOS-Signal zu senden. Die Kinder schreien vor Hunger und Kälte. Wir können niemanden erreichen. Vielleicht sollten wir versuchen, zur Küste zu schwimmen?“
über das projekt
Drei Lebensläufe, von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aus unterschiedlichen Zeiten, und doch untrennbar verbunden durch das Element der Flucht.
Aktuell erlebt Deutschland die Auswirkungen internationaler Krisen am eigenen Leib. Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab. Das für Deutschland bequeme Schengen-Abkommen greift nicht mehr. Deutschland scheint gespalten. Hysterie macht sich breit. Auf beiden Seiten. Hunderttausende von Menschen erreichen in diesen Monaten unser Land. Menschen aus anderen Kulturen, begegnet wird ihnen zwiespältig, von der einen Seite mit Misstrauen und/oder offener Ablehnung, von der anderen Seite mit Offenheit und Toleranz, doch wie lange hält diese erste Euphorie? Wie weit und tief kann unsere Empathie überhaupt gehen? Wir können Verständnis aufbringen, aber niemand von uns kann wirklich verstehen, wie es sich anfühlen muss, aus seiner Heimat zu fliehen, seine Liebsten hinter sich zu lassen oder, schlimmer noch, mit auf die lebensgefährliche Reise zu nehmen, manchmal jahrelang unterwegs zu sein, um dann in einer anderen Welt zu stranden, nicht wissend, ob und wann man wirklich angekommen ist.
Und doch gibt es sie, Menschen aus unserer Kultur, die das Leid und die Gefühle der „Fremden“ genau nachempfinden können. Ihre leisen, verständnisvollen Stimmen sind es, die ein Trost sein könnten für jene, die uns trotz aller Bemühungen fremd zu bleiben scheinen. Es sind die Stimmen der Alten. Sie hätten wohl einiges zu sagen, aber kaum jemand hört ihnen zu. Doch auch sie benötigen Trost und Aufmerksamkeit.
Der von uns angestrebte Altersunterschied spielt im Prozess eine entscheidende Rolle. Nicht nur kommen die Geflüchteten in Kontakt mit Menschen, die ihre Situation wirklich nachempfnden können, obwohl sie doch aus einem anderen Kulturkreis kommen, es sind Menschen die flüchten mussten, überlebt haben und altern durften. Sie haben es geschafft, haben sich ein Leben aufgebaut und haben eine Heimat. Sie verkörpern nicht nur Verständnis, sondern vor allem Hoffnung. Umgekehrt erfahren die Älteren im Idealfall nicht nur eine andere Form der Aufmerksamkeit, sondern auch das Gefühl, dass ihre bewegende Geschichte noch einen ganz anderen Sinn bekommen hat, dass sie ein Trost und sogar eine Inspiration sein kann.
Dieser Phase wird unser Hauptaugenmerk gelten. Mit Hilfe von Übersetzern, Betreuern und Mitarbeitern div. Hilfs-Organisationen wie u.a. der Caritas werden wir diesen Prozess dokumentierend begleiten bis hin zum ersten Aufeinandertreffen, wobei hier beide Seiten die Möglichkeit erhalten sollen, die aktuellen Lebensumstände des/der BriefpartnerIn kennenzulernen.
Nach der Annäherungsphase und den ersten Briefwechseln beginnt gemeinsam mit
den TeilnehmerInnen die Auswertung. Dabei erhalten die Kinder und Jugendlichen im Rahmen von Theaterpädagogischen Workshops eine besondere Aufmerksamkeit. In den Räumlichkeiten des Jungen Theaters Leverkusen werden unsere KünstlerInnen mit den Flüchtlingen sowohl in Einzelgesprächen als auch Gruppenworkshops die Briefe und die darin enthaltenen Geschichten und Themen refektieren, das gleiche Prozedere wird mit den SeniorInnen in den Räumlichkeiten des westdeutschen Tourneetheaters Remscheid abgehalten, wobei die Jüngeren eine intensive Künstlerische Schulung erhalten.
Das Ziel ist, die Ausdrucksmittel und die Refexionsfähigkeit der TeilnehmerInnen zu erweitern, bzw. neue Mittel des Ausdrucks zu vermitteln. Dies soll zum einen die Empathiefähigkeit im Hinblick auf die BrieffreundInnen verstärken, zum anderen soll es dazu anregen, neue Fragen zu entwickeln und die Gespräche reichhaltiger zu gestalten. Die Kinder werden dadurch angehalten, Ihre Briefe mit anderen Künstlerischen Ausdrucksmitteln zu erweitern, sei es durch Zeichnungen, Lyrik usw., um nicht zuletzt auch ein plastischeres Bild der eigenen Kultur zu vermitteln.
Workshopinhalte sind unter anderem: Wie erzähle ich eine Geschichte, wie verstehe ich eine Geschichte? Schauspiel, Sprechen, Körperausdruck, Zeichnen und Malen, Visualisierung, Gesang, Musik, Textanalyse, Geschichte, Rollenarbeit. Die Arbeitsergebnisse werden in Bild und Ton dokumentiert und Teil der Ausstellung. Ganz nebenbei werden die Sprachfähigkeiten der Kinder geschult.
Dieses Projekt soll als Vorbild für eine bundesweite Initiative dienen. Interessierte Kommunen und Interessensgruppen können uns bereits jetzt gerne ansprechen.